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Innere Ressourcen aufspüren

Resilienz entscheidet, ob wir konstruktiv mit Druck umgehen können oder uns in einer Abwärtsspirale gefangen fühlen.
Foto: A. Karnholz/Fotolia

Professor Bodenmann, haben wir tatsächlich mehr Stress als frühere Generationen? Und: Stressen wir uns selbst?

Guy Bodenmann:

Es spielt wohl beides eine Rolle. Einerseits gibt es tatsächlich mehr täglichen Stress. Die sogenannten daily hassles, also kleinere, alltägliche Unannehmlichkeiten, haben zugenommen – der Leistungsdruck, die Hektik der modernen Zeit. Andererseits geht die moderne Stressforschung davon aus, dass eine Anforderung subjektiv als stressig empfunden wird. Die Frage ist also, wie wir selbst sie einschätzen und wie wir mit ihr umgehen.

Als Bild für unser persönliches Befinden und unseren Umgang mit Stress haben Sie das „Stresshaus“ entwickelt, mit Etagen, Zimmern und Leitungssystemen. Wie sieht es darin aus?

Guy Bodenmann:

Dieses Bild ist der Versuch, das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren für das Stresserleben aufzuschlüsseln. Das Fundament des Hauses ist unser Selbstwertgefühl. Hinzu kommen dann in verschiedenen Etagen Aspekte wie Wertschätzung und Anerkennung, Leistungs-, Liebes- und Genussfähigkeit. Aber auch eigene Werte und Sinnfragen, die unseren Umgang mit Stresssituationen beeinflussen, spielen eine Rolle.

Warum ist es wichtig, diese verschiedenen Bereiche zu unterscheiden?

Guy Bodenmann:

In der Literatur zum Thema geht es meist um Tipps, wie man den individuellen Stress mindern kann. Diese Hinweise beziehen sich in aller Regel auf das Erlernen von Entspannungstechniken und eine gesunde Ernährung; es geht um Bewegung und Sport. Diese allesamt wichtigen Aspekte bezeichne ich als „Leitungssystem“ des Hauses. Wenn aber das Fundament, also unser Selbstwertgefühl, nicht stabil gebaut ist, dann ist das ganze Haus fragiler. Da kann auch ein gestärktes Leitungssystem nur begrenzt helfen. Es ist interessant, in Gedanken einmal durch dieses Haus zu gehen und zu prüfen: Welches Zimmer spricht mich am meisten an? Wo sehe ich Handlungsbedarf, wo nicht? Diejenigen, die tatsächlich bis ans Fundament runtergehen müssen, die haben natürlich auch die meiste Arbeit.

Mit dem Begriff „Resilienz“ wird seit einigen Jahren die Fähigkeit mancher Menschen beschrieben, mit den kleinen und großen Widrigkeiten des Lebens souverän umzugehen. Sie sind belastbarer, motivierter und optimistischer als andere und damit auch weniger gestresst. Woran liegt das?

Guy Bodenmann:

Der zentrale Faktor für die Ausbildung von Resilienz ist – wie schon beim Fundament des Stresshauses – ein gutes Selbstwertgefühl. Es kommt nämlich darauf an, mit welcher Haltung wir auf Herausforderungen zugehen: Glauben wir daran, ihnen gewachsen zu sein, etwas bewirken zu können? Wie steht es um unsere Sozialkompetenzen? Diese Resilienz-Faktoren entstehen im Laufe der menschlichen Entwicklung, werden also durch persönliche Erfahrungen geprägt. Alle Menschen erleben in ihrem Leben Phasen, in denen sie an ihre Belastungsgrenzen kommen. Es gibt dann eine Reihe von Faktoren, die mitentscheiden, wie gut ein jeder mit der Situation umgehen kann – externe wie beispielsweise das soziale Netz oder auch die jeweilige Wohngegend, aber auch und vor allem interne Faktoren wie die oben geschilderten individuellen Ressourcen.

Guy Bodenmann ist Professor für Klinische Psychologie an der Universität Zürich und erforscht seit vielen Jahren das Thema Stress. Er hat wissenschaftlich fundierte Programme zur Stressbewältigung entwickelt, die sowohl Einzelnen als auch Paaren helfen wollen, konstruktive Lösungen im Umgang mit Stress zu entwickeln.
Foto: Axel Springer Schweiz AG

Die Forschung weiß heute um die große Bedeutung der Kleinkindzeit für die Ausbildung eines gesunden Selbstbewusstseins. Welche Gesichtspunkte sind besonders entscheidend?

Guy Bodenmann:

Die Kindheit spielt tatsächlich eine zentrale Rolle. Erlebt man, dass man für seine Eltern ein wichtiger Mensch ist, dass sie verlässlich und verfügbar sind und einem die Liebe, Zuneigung, Wärme, die man benötigt, geben – aber auch eine stabile Struktur und die nötigen Grenzen –, schafft dies ganz wichtige Voraussetzungen für Resilienz.

In vielen Beiträgen zum Thema Stress taucht auch der Begriff der „Selbstwirksamkeit“ als positiver Faktor für den Umgang mit Stresssituationen auf. Was ist damit gemeint?

Guy Bodenmann:

Angenommen, es gibt einen bestimmten, in der Zukunft liegenden Vorgang. Die Frage ist nun, welche Erwartung ich in Bezug darauf habe. Da gibt es eine große Spannbreite: Ich kann denken, dass ich eh nichts tun kann, dass alles eine Frage des Schicksals ist – das ist eine sogenannte externale Kontrollüberzeugung. Bei der internalen Kontrollüberzeugung dagegen glaube ich, dass ich den Vorgang sehr wohl beeinflussen kann. Etwa in einer Prüfungssituation: Wenn ich mir sicher bin, das Ergebnis beeinflussen zu können, indem ich mich auf die Prüfung vorbereite und lerne, dann ist auch die entsprechende Motivation da. Wenn man diese Überzeugung nicht hat, erlebt man sich als Spielball äußerer Mächte und fühlt sich daher auch viel schneller gestresst. Man meint, den Anforderungen nichts entgegensetzen zu können.

Warum können Kontrollüberzeugungen so unterschiedlich sein?

Guy Bodenmann:

Auch hier spielen Erfahrungen aus der frühen Kindheit eine Rolle. Kann das Kind Kontrolle ausüben, kann es seine Umwelt beeinflussen, indem es etwa schreit und Nahrung bekommt oder eine frische Windel? Oder später in der Schule: Wie reagieren die Eltern auf seine Schulleistungen? Freuen sie sich mit ihm über gute Ergebnisse oder vermitteln sie ihm, dass diese gar nichts mit seiner Leistung zu tun haben, mäkeln vielleicht sogar daran herum? Solche Kommentare festigen ein negatives Selbstbild: Man ist nie gut genug, kann den Wünschen der anderen nicht entsprechen.

Was kann man als Erwachsener tun, um die eigene Fähigkeit zur Stressbewältigung zu stärken?

Guy Bodenmann:

Ganz entscheidend finde ich den Aspekt der Genussfähigkeit. Ich halte es da mit dem griechischen Philosophen Epikur, der schon vor über 2.000 Jahren für ein genussvolles Leben plädierte – wobei es ihm keineswegs um den Exzess ging, sondern darum, elementare Bedürfnisse zu befriedigen und daraus Lust zu ziehen. Genügsamkeit entwickeln, sich an kleinen Dingen freuen – das hilft uns weiter. Wenn man sich dagegen lediglich an äußeren, materiellen Dingen freut, etwa an einem Auto, ist die Freude schnell zerstört, wenn der Nachbar mit einem noch tolleren Wagen vorfährt. Die Frage ist also: Kann ich den Moment genießen? Kann ich diese kleinen Augenblicke im Alltag wahrnehmen, die mich aufbauen und einen Gegenpol zum individuellen Stresserleben darstellen? Menschen, die das können, ziehen daraus auch geistige Nahrung und sind stressresistenter.

Manchmal geraten aber auch das Entspannen oder der Wunsch nach Ausgleich selbst zum Stress – dann nämlich, wenn man auch in diesem Bereich auf Optimierung aus ist.

Guy Bodenmann:

Ein gutes Beispiel dafür ist das Joggen. Diese Tätigkeit entspricht ja im Bild des Stresshauses dem Leitungssystem: Da ist jemand, der macht Sport – er tut sich damit etwas Gutes, könnte man meinen. Leider betreiben aber viele Menschen auch das Joggen unter dem Leistungsaspekt. So hetzen sie durch den Wald, blind für die schönen Farben, den Gesang der Vögel, die gute Luft. Gelingt es dagegen, diese positiven Eindrücke aufzunehmen, sich daran zu erfreuen, ohne immer nach dem Pulsmesser zu schielen und persönliche Höchstleistungen anzustreben, dann hat das Joggen eine doppelte Wirkung, weil es auch der Psyche guttut, nicht nur dem Körper.

Dieser Artikel wurde erstmals in der viaWALA Dezember 2014 veröffentlicht.

Herzlichen Dank für das Gespräch.