Was wollen Sie lesen? Entscheiden Sie sich für eines unserer Themen.


Zeit für Gesundheit

Sich gemeinsam für Gesundheit stark machen: Gründungsversammlung der gemeinnützigen Bürgergenossenschaft grüne Aue im Mai 2022 in der vollbesetzten Gemeindehalle von Hermaringen.
Foto: Praxis grüne Aue/Leon Frerot

Handy aus, Hausschuhe an. Schon beim Betreten der Praxis merken wir: Hier läuft einiges anders. Alle Räume sind hell und mit hochwertigen Holzmaterialien gestaltet. Im Wartezimmer angekommen, strahlt ein Kamin Gemütlichkeit aus. Fast denken wir, dass wir in einem Café und nicht in einer Praxis sind. „Uns war es wichtig, eine einladende Atmosphäre zu schaffen, denn wenn wir uns wohlfühlen, entstehen andere Begegnungen“, berichtet Anne-Gritli Göbel-Wirth, Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe und in Weiterbildung zur Hausärztin. Unter dem Namen „Lebensgarten grüne Aue“ hat sie gemeinsam mit ihrem Mann, dem Hausarzt Sebastian Göbel, ein neues Gesundheitskonzept aufgebaut, das deutschlandweit einzigartig ist.

„Bitte nehmen Sie Platz“: das Wartezimmer der Praxis grüne Aue in Hermaringen.
Foto: Praxis grüne Aue

Beziehungsmedizin im Mittelpunkt

„Für uns war es von Anfang an wichtig, zu schauen, wie wir die Menschen hier vor Ort in ihrer jeweiligen Entwicklungs- und Lebensphase unterstützen können, und uns Zeit für die Behandlung zu nehmen“, ergänzt Sebastian Göbel. Die Basis dafür: eine solidarische und gemeinnützige Bürgergenossenschaft, die mehr Zeit in der Sprechstunde, erweiterte therapeutische Angebote sowie Gesundheitsbildung und Beziehung ermöglicht – auch unter den Menschen selbst. Neben einem gesundheitsfördernden Ansatz, der zu einer nachhaltigen regionalen Gesundheitskultur beitragen soll, möchte die Genossenschaft die Menschen zur Mitgestaltung aktivieren. „Zur Gesundheit gehören zwei Richtungen: Diejenige, in der der Mensch Unterstützung bekommt, wenn er hilfebedürftig ist; aber auch das Sinnerleben, das entsteht, wenn wir in die Gesellschaft hineinwirken, etwas geben und uns einbringen, gehört unbedingt dazu“, führt Anne-Gritli Göbel-Wirth aus. „Auch für uns als ärztlich-therapeutisch arbeitendes Team ist es entscheidend, die Tätigkeit wieder sinnhaft werden zu lassen. Mit solch einem Konzept schaffen wir es darüber hinaus, junge Kolleg:innen für Hermaringen zu begeistern, denn inzwischen suchen sehr viele Ärzt:innen nach einem Sinnerleben in der Tätigkeit“, ergänzt Sebastian Göbel.

Vielfalt ermöglichen

Nicht nur hinsichtlich des solidarischen Konzepts, sondern auch bezüglich des therapeutischen Standards schlägt das Praxisteam neue Wege ein. Therapiepluralismus wird hier großgeschrieben. So können neben der regulären hausärztlichen Versorgung zusätzlich naturheilkundliche und anthroposophische Leistungen in Anspruch genommen werden. „Im Rahmen unserer Beratung zeigen wir Möglichkeiten auf, die Entscheidung für eine Therapieform liegt aber selbstverständlich letztendlich bei dem Patienten oder der Patientin“, berichtet Sebastian Göbel. Ermöglicht wird dieses umfassende Angebot durch die monatlichen Beiträge der Mitglieder der Bürgergenossenschaft. Konkret: Maximal 20 Euro, Familien zahlen einen Beitrag von 35 Euro und Geringverdienende 10 Euro. Auch eine Unterstützung in Form einer Fördermitgliedschaft oder mittels Spenden ist möglich.

Versorgungsengpässe erkannt

Dieses Modell kann eine Antwort auf die aktuelle Versorgungsnotlage sein: Laut einer Studie der Robert Bosch Stiftung werden 2035 11.000 Hausärzt:innen in Deutschland fehlen. Das bedeutet, dass 40 Prozent aller Landkreise unterversorgt sein werden oder davon bedroht sind. „Wir brauchen neue Konzepte in der Gesundheitsversorgung, denn in einer Zeit, in der unsere Gesellschaft zunehmend kränker und das Thema Einsamkeit als einer der größten gesundheitsreduzierenden Faktoren immer präsenter wird, fehlt es insbesondere in ländlichen Regionen an Hausärzt:innen. Die Folge ist, dass viele unserer jungen Kolleg:innen gar nicht mehr in diesem System arbeiten wollen“, so Anne-Gritli Göbel-Wirth. „Im hiesigen Landkreis Heidenheim ist in fünf Jahren die Hälfte aller Hausärzt:innen im Ruhestandsalter. Da werden allein hier 35.000 Menschen ohne hausärztliche Versorgung sein, wenn keine jungen Kolleg:innen nachkommen“, fügt Sebastian Göbel hinzu.

Sebastian Göbel hat sich auf Ernährungsfragen und insbesondere das Heilfasten fokussiert. Dazu bietet er regelmäßig Gruppenveranstaltungen an.
Foto: WALA
Anne-Gritli Göbel-Wirth ist der Dialog mit den Bürger:innen in Hermaringen wichtig.
Foto: WALA

Begegnungen schaffen

Diese Bürgergenossenschaft ist die erste ihrer Art, die eine erweiterte Gesundheitsversorgung zum Ziel hat. Im Mai 2022 wurde sie mit 333 Mitgliedern gegründet – inzwischen sind es 450. 85 % der monatlichen Beiträge kommen von den Menschen aus der direkten Umgebung. Diese Einnahmen kommen insbesondere der Zeit für eine individuelle Sprechstunde zugute. Darüber hinaus wird aber auch der bürgerliche Dialog gefördert. Dafür benötigt es viel Motivation und Engagement – ein starkes Team ist gefragt: Anna Lotta Rohmeyer und Kai Näbert vervollständigen das Ärztequartett vor Ort. „Wir wollen hier Entwicklungsräume schaffen, die einen gemeinsamen Austausch stärken und in denen jede und jeder von den Erfahrungswerten der Gemeinschaft profitiert“, sagt Anna Lotta Rohmeyer.

Praxis statt Theorie

Dazu steht das Praxisteam im Rahmen des sogenannten Mitmach-Bürger-Dialogs im regelmäßigen Austausch mit der Bevölkerung, um den Bedürfnissen vor Ort gerecht zu werden und eine Plattform zu bilden, auf der sich alle Menschen einbringen können. Kostenlose Angebote und Zusammenschlüsse von Menschen für Menschen. Ein solidarisches Konzept, das Erfolg hat und zum Aktivwerden anregt. Neben dem Mitmach-Bürger-Dialog gibt es Veranstaltungen zur Gesundheitsbildung vom ärztlichen Team, die viele praktische Gruppenangebote und Vorträge zu Gesundheitsthemen beinhalten: etwa Kurse zum Fasten, zur Anwendung von Wickeln und Auflagen oder auch zum Umgang mit Lebenskrisen wie lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen oder Ängsten.

Kai Näbert versteht Gesundheit nicht als Zustand, der einmal erreicht wird, sondern als einen fortlaufenden Prozess.
Foto: WALA
Anna Lotta Rohmeyer will neue Räume für Begegnungen schaffen.
Foto: WALA

Gesundheit umfassend verstehen

Ein umfassendes Angebot, das auf Nachfrage der Mitglieder beruht. Denn in der Auseinandersetzung mit Gesundheit im Rahmen des Mitmach-Bürger-Dialogs hat sich ergeben, dass neben der körperlichen Gesundheit insbesondere ein sinnerfülltes und selbstbestimmtes Leben im Vordergrund steht. Das knüpft an die Forschungsarbeit der niederländischen Ärztin Machteld Huber an , die sich umfassend mit den verschiedenen Dimensionen von Gesundheit befasst. „Wir verstehen unsere Arbeit im ‚Lebensgarten‘ als Kulturarbeit. Das bedeutet für uns Sorge, Sorgfalt und Pflege für die Menschen, die uns ihr Vertrauen schenken“, erklärt Kai Näbert.

Wundersame Zufälle

Dass das engagierte Team in Hermaringen gelandet ist, ist ebenfalls Folge einer persönlichen Begegnung: Sebastian Göbel und der Bürgermeister von Hermaringen besuchen denselben Friseur. Letzterer wurde darauf aufmerksam, dass die Gemeinde Hermaringen seit 13 Jahren händeringend nach einer hausärztlichen Versorgung suchte, und spielte den Vermittler. Mit Erfolg: Nachdem ein geplantes Bauvorhaben in Hermaringen gestoppt worden war, stand dem ganzheitlichen Praxiskonzept nichts mehr im Wege. „Natürlich mussten wir vorab sehr viel Hirnschmalz hineinstecken und einige rechtliche Hürden überwinden, aber eben auch im Gespräch mit den Gemeinderät:innen sowie den Bürger:innen vor Ort das Projekt plastisch werden lassen“, schließt Anne-Gritli Göbel-Wirth. „Da haben wir wirklich Pionierarbeit geleistet und hoffen, dass daraus noch viele Nachfolgeinitiativen hervorgehen werden. Der Weg ist nun geebnet.“