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Lo-TEK statt Hightech

Foto: Aria Isadora

Frau Watson, zunächst die Frage: Was verbirgt sich hinter dem Begriff Lo-TEK?

Julia Watson:

Der Begriff setzt sich aus zwei Wörtern zusammen: lokal und TEK, denn darum geht es: lokales, traditionelles und ökologisches Wissen. Und um Technologien, die von uns als solche anerkannt werden sollten. Denn es sind die indigenen Völker, die symbiotische Lebensweisen innerhalb natürlicher Systeme entwickelt haben und die Komplexität der Ökosysteme auf eine Art und Weise verstehen, die uns nicht bewusst ist. Der Begriff ist auch ein Wortspiel, das auf unsere Vorurteile gegenüber indigenen Gemeinschaften und ihren Technologien hinweist. Diese Innovationen werden oft fälschlicherweise als „Low-tech“ bezeichnet, was sich auf einfache und unausgereifte Technologien bezieht, die unsere „moderne“ Gesellschaft als primitiv empfindet, wohingegen es sich bei Lo-TEK in Wirklichkeit um hochentwickelte Technologien handelt, die mit der Natur und nicht gegen sie arbeiten.

Ist unsere Gesellschaft vielleicht zu arrogant, um sich mit traditionellen Technologien auseinanderzusetzen?

Julia Watson:

Arroganz würde ich es nicht nennen. Ich denke eher, dass diese Einstellung auf einer, wie ich es nenne, „Mythologie der Technologie“ beruht. Es ist eine Mythologie darüber, was hochentwickelt und was Fortschritt ist. Dieses Denken begann im Zeitalter der Aufklärung und wurde während der Industrialisierung verstärkt. Mit dem Einsatz von Brennstoffen und dem Streben nach maximaler Ressourcengewinnung wurde die Zerstörung der Erde immer weiter vorangetrieben. Jetzt beginnen wir zu realisieren, dass wir unserem Planeten schaden. Die Kehrseite ist jedoch, dass es nun eine Art Überlegenheits- oder Erlöserkomplex gibt. Wir müssen zu einem anderen Verständnis unserer Beziehung zur Natur übergehen. Eine symbiotische Beziehung nach dem Motto: „Kümmern wir uns um die Erde, denn wir sind jetzt alle Hüter des Planeten“. Das ist etwas, was indigene Gesellschaften schon immer verstanden haben – dass es unsere Aufgabe als Menschen ist, alle Formen des Lebens auf der Erde zu schützen. Deshalb habe ich ein Buch geschrieben, das viele Technologien vorstellt, die bereits existieren.

Um nachhaltige Technologien aufzuspüren, ist Julia Watson durch die ganze Welt gereist. Im indischen Dschungel hat sie Baumwurzelbrücken erforscht, die den Khasi als Transportweg dienen.
Foto: Amos Chapple
Auf Bali, Indonesien, untersuchte sie die Architektur der Reisterrassen, eines jahrtausendealten Agrarsystems der Subak.
Foto: David Lazar
Auf dem Titicacasee in Peru ist die Australierin auf eine schwimmende Siedlung gestoßen, die von den dort ansässigen Uros komplett aus Schilfrohr gebaut wird.
Foto: Enrique Castro-Mendivil

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Julia Watson:

Außerhalb der Stadt Kolkata in Indien gibt es eine unglaubliche Technologie der Bengalen, das Bheri-System. Es ist weltweit einmalig und das einzige Abwassersystem, das organisch und ohne Zusatz von Chemikalien funktioniert. Bheris sind flache Fischteiche, die mit Abwasser gespeist werden. Durch eine Mischung aus Sonnenlicht, Bakterien und Algen entsteht dort eine natürliche Symbiose, die ein intaktes Ökosystem erzeugt. Das Abwasser wird dadurch so aufbereitet, dass es als Lebensraum für Fische dient und diese wiederum zur Nahrungsquelle für die Einwohner werden. Auch die Landwirte in der Region profitieren von diesem Reichtum und können auf dem nährstoffreichen Boden Getreide, Reis und Gemüse anbauen. Das System hat jedoch nicht nur ökologisch und ökonomisch, sondern auch sozial einen großen Stellenwert: Rund 100.000 Arbeitsplätze werden dadurch geschaffen.

Wirklich beeindruckend. Wie können wir es denn schaffen, ein breiteres Verständnis für Lo-TEK zu schaffen?

Julia Watson:

Es sind grundsätzliche Überlegungen, die bei der Beantwortung dieser Frage helfen: Wie können wir symbiotisch mit unserer Umgebung leben anstatt parasitär? Wie können wir in Gemeinschaften miteinander arbeiten anstatt in starren Strukturen? Und welches Wissen können wir aus diesen Arten von Gemeinschaften ziehen und aus der Art und Weise, wie sie Ressourcen teilen? In meinem Fachgebiet reden alle über Technologien zur Bekämpfung des Klimawandels, aber niemand berücksichtigt, dass es bereits Tausende von ihnen in indigenen Gemeinschaften gibt. Sie wurden als Reaktion auf dieselben Klimaextreme entwickelt, die wir heute erleben, beispielsweise Überschwemmungen, Brände und Dürren.

Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Wieso haben Sie Ihr Buch den nächsten sieben Generationen gewidmet?

Julia Watson:

Das beruht auf einer Überlieferung der Irokesen, die besagt, dass man bei seinen Entscheidungen sieben Generationen vorausdenken muss. Ich denke, dass es in der heutigen Welt sehr leicht ist, desillusioniert und deprimiert zu werden, wenn man über die Zukunft nachdenkt. Viele Menschen haben Angst um ihre Kinder. Ich wollte, dass dieses Buch hoffnungsvoll ist, dass es uns erlaubt, davon zu träumen, was in sieben Generationen sein wird. Ja, die Zukunft wird schwierig, aber es ist uns erlaubt, über die nächsten sieben Generationen nachzudenken. Und je schneller wir das tun, desto besser wird es der Erde gehen.

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