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Wolfgang Laib: Blütenstaub von Haselnuss, 1992, Installationsansicht: Centre Pompidou, Paris, 1992 © Wolfgang Laib
Foto: Carolyn Laib
Stille Kraft für laute Zeiten
„Kunst hat die Fähigkeit, etwas für die Zukunft vorzuschlagen und zu gestalten. Daher empfinde ich Kunst als das Wichtigste in der Welt.“
In den feinsinnigen Werken des 1950 in Oberschwaben geborenen, global agierenden Künstlers zeigt sich dieser Anspruch an Universalität und Zeitlosigkeit, die bereits in der Natur vorgegeben sind. Respekt gegenüber und die Teilhabe an der Natur sind die treibenden Kräfte in Wolfgang Laibs Arbeiten, die von Zeit, Rhythmus und Spiritualität geprägt sind und sich erfolgreich dem scheinbar unausweichlichen Druck zu Effizienzsteigerung und Tempo verweigern.
Kunst als Heilmittel
Sein Aufwachsen in einer kunstinteressierten, kosmopolitischen Arztfamilie brachte Wolfgang Laib bereits von Kindheit an in Kontakt mit fernöstlichen Philosophien und entfachte schon früh seine Begeisterung für Kunst. Dennoch schloss er 1974 das Studium der Medizin als Dr. med. ab – und wurde Künstler: „Ich wollte heilen, aber nicht als Arzt. Ich wollte Menschen in ganzheitliche Prozesse einbinden. Im künstlerischen Werk habe ich realisiert, was ich als Arzt machen wollte, aber im Krankenhaus nie machen konnte.“
So schafft Wolfgang Laib seit Mitte der 1970er Jahre einzigartige Artefakte wie Milchsteine, Wachsräume, Steinboote, Blütenstaubfelder und Reishäuser, die sowohl in eine archaische Vergangenheit als auch in eine überzeitliche Zukunft des Menschen zu deuten scheinen. Sein zeichnerisches und skulpturales Werk will Universelles zum Ausdruck bringen – etwas, das über die Zeit und die Menschen hinausreicht. Aus Stoffen der Natur und in jahreszeitlichen Arbeitszyklen geschaffen, tritt Laib als individueller Künstler darin zurück, wird so zum Werkzeug und lässt dem großen Ganzen, in das der Mensch eingebunden ist, den Vortritt.
„Das hat sehr viel mit Heilung zu tun. Aber noch weit mehr geht es dabei um die Welt an sich – was die Welt ist, was unsere Existenz mit Leben und Tod ist, alles dies.“ Aus dieser ganzheitlichen Lebens- und Weltauffassung entstanden, vertiefen sich Wolfgang Laibs minimalistische Arbeiten in wenige Materialien und laden zu einer entschleunigten Wahrnehmung ein, die sowohl Körper als auch Geist anspricht.
Wirken im Wechsel der Jahreszeiten
Ob in seinem Anwesen im dörflichen Oberschwaben, wo im Einklang mit der natürlichen Topographie ein architektonisches Gesamtkunstwerk wächst, oder in der tropischen Fülle seines Ateliergartens in Südindien: Die Natur ist für Wolfgang Laib Arbeits- und Andachtsraum zugleich und liefert Ideen und Werkstoffe im Rhythmus der Jahreszeiten.
So bildet das aufwändige Sammeln von Blütenstaub im Frühling einen wesentlichen Teil seines Lebens: Seit 1977 sammelt der Künstler behutsam den Pollen von Löwenzahn, Haselnuss und Kiefer in unmittelbarer Nähe seiner oberschwäbischen Heimat. Ausgestreut in leuchtend-flirrende Blütenstaubfelder, gibt Wolfgang Laib dem Pollen eine neue Gestalt, die sich zwischen Unmittelbarkeit und Zeitlosigkeit bewegt und die Bedeutung des Materials für die natürlichen Kreisläufe von Werden und Vergehen symbolisiert. „Blütenstaub ist nicht nur wichtig für das 21. Jahrhundert – für das Gegenwärtige reichen Politiker.“ Bis zu 20 Jahre lang sammelt Laib, um solch ein scheinbar schwebendes Farbfeld auf den Boden stäuben zu können; nach Ausstellungsende wird der kostbare Urstoff des Lebens eingesammelt, gereinigt und aufbewahrt.
In der Wärme des Sommers formt Wolfgang Laib pyramidale Skulpturen, Schiffsrümpfe und ganze Räume aus Bienenwachs, die an sakrale Bauten erinnern und die Verbindung zwischen Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits symbolisieren. Bienen zählen zu den ältesten Tieren der Welt, das von ihnen hergestellte Wachs wird seit Jahrhunderten vom Menschen für seine pflegenden Eigenschaften geschätzt. Für Laib hat dieser „spirituelle“ Werkstoff eine ganz besondere Dimension: „Der Geruch von Bienenwachs ist sehr beständig und trägt eine nichtrationale, emotionale Erfahrung mit sich, die mir als Künstler sehr wichtig ist.“ Wolfgang Laibs Wachsraum, ein leerer, ganz mit Bienenwachsplatten ausgekleideter Raum, der Sanftheit und Wärme ausstrahlt, ermöglicht diese Erfahrung mit allen Sinnen.
Während Wolfgang Laib im Winter in seinem Atelier im südindischen Madurai an Skulpturen aus Stein, Reis und Metall arbeitet, tritt er mit der umgebenden Landschaft, ihren Bewohnern und deren geistiger Kultur in einen Dialog. Die Faszination für sakrale und kultische Orte, an denen sich der Glaube an eine Dimension manifestiert, die über das irdische Leben hinausweist, zieht sich ebenso stark durch Laibs Werke wie die Faszination und Schönheit der Natur.
Transformation, von der Zukunft her kommend
Berge aus Pollen, Steine aus Milch, Pyramiden aus Bienenwachs: Wolfgang Laibs behutsame Kunst strahlt Stille aus und Besinnung aufs Wesentliche – und dabei geht es ums Ganze. Wolfgang Laib setzt sich der Wirklichkeit aus, um diese zu transformieren. Er regt an zu einer Auseinandersetzung mit unserem Umgang mit natürlichen Ressourcen, die aktueller nicht sein könnte. „Ich will viel mehr, als ein ökologisches Werk schaffen. Ich will mich darauf konzentrieren, was möglich ist in dieser Welt. Und zeigen, dass ganz andere Dinge möglich sind, auch für jeden Einzelnen.“
Noch bis zum 5. November 2023 ist die in enger Zusammenarbeit mit Wolfgang Laib entwickelte Ausstellung „Wolfgang Laib: The Beginning of Something Else“ im Kunstmuseum Stuttgart zu sehen. Ein Dokumentarfilm zur Ausstellung porträtiert Wolfgang Laib während eines Jahres bei seiner Arbeit in Oberschwaben und Südindien.
TEXT: Ulrika Bohnet