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Die Reise der blauen Sterne

Vorsichtig schichten die Gärtner das wertvolle Erntegut in große Weidenkörbe – insgesamt über 100 Kilo.

Die Nacht vor der Ernte ist kurz. Ungewohnt früh, um 4.30 Uhr, klingelt der Wecker. Um 5.30 Uhr stehen wir bereits im WALA Heilpflanzengarten vor dem Borretsch-Feld. In den zarten blauen Blüten hängt Tau; es duftet nach feuchtem Gras und Kräutern. Die Vögel geben ein vielstimmiges Konzert und die Sonne steigt gerade rotglühend über die Gartenhecke. Keine Frage – die Stimmung in diesen frühen Morgenstunden ist eine ganz besondere. Friedlich, ruhig, meditativ. Und trotzdem. „Warum muss die Ernte denn so früh beginnen?“, fragen wir Bernhard Ehrmann, Leiter des WALA Heilpflanzengartens. Er schmunzelt ein wenig, als er in unsere verschlafenen Gesichter blickt. „Zum einen werden die Pflanzen sofort nach der Ernte verarbeitet. Noch vor 11 Uhr müssen sie zerkleinert und in Tontöpfen angesetzt worden sein. Dafür brauchen die Kollegen aus der Produktion genügend Zeit. Zum anderen kommen die Pflanzen erfrischt und gestärkt aus der Nacht hervor. Sie sind ausgeruht und geordnet. Genau in diesem Zustand wollen wir sie nutzen.“

Arbeitsstart im Morgengrauen

Für die WALA Gärtner ist ein früher Arbeitsstart also Alltag. Meist beginnen sie zwischen 5 und 6 Uhr morgens. Ins Bett geht Bernhard Ehrmann deshalb oft schon gegen 21 Uhr. „Zeitgleich mit meinen Kindern“, bekennt er lachend. Die Pflanzen bestimmen nicht nur seinen Terminplan, sondern auch die Arbeitseinsätze der Gärtner übers ganze Jahr.

Jede Pflanze hat ihren eigenen Betreuer

Der Termin für die Borretsch-Ernte wurde einige Male verlegt – schließlich soll die Pflanze für die Ernte in voller Kraft und Blüte stehen. Um den richtigen Zeitpunkt zu bestimmen, ist viel Fingerspitzengefühl nötig, eine genaue Beobachtungsgabe und viel Erfahrung. Doch nun, Mitte Juni, ist es so weit. Die Mitarbeiter machen sich bereit, tragen große, geflochtene Weidenkörbe zum Feld und verteilen an jeden Helfer eine Ernteschere. Insgesamt sechs Gärtner und ein Lernling arbeiten im WALA Heilpflanzengarten. Im Sommer bekommen sie außerdem Unterstützung von Aushilfskräften. Heute leitet Bernhard Ehrmann die Ernte. Bei jedem Einsatz gibt es einen Ernteleiter, der meist auch der zuständige Pflanzenbetreuer ist. „Unser Garten ist in Bereiche aufgeteilt“, erklärt Joscha Huter, der seit sieben Jahren als Gärtner bei der WALA arbeitet. „Jede Pflanze hat ihren eigenen Betreuer, der sich intensiv um sie kümmert und vom Pflanzen übers Jäten bis hin zur Ernte eine besondere Beziehung zu ihr aufbaut.“ Der Borretsch (Borago officinalis L.) ist Bernhard Ehrmanns Schutzbefohlener.

Reihe für Reihe nehmen sich die WALA Gärtner das Borretsch-Feld vor. Die Arbeit geht ruhig und sehr konzentriert vonstatten.
Borretsch ernten wir am frühen Morgen, denn während der Nacht sammeln die Pflanzen neue Kräfte und gehen gestärkt in den Tag. Indem wir sie noch vor 11 Uhr weiterverarbeiten, nutzen wir diese wertvolle, konzentrierte Energie.
Rund 150 verschiedene Heilpflanzen baut die WALA in ihrem eigenen Heilpflanzengarten an.
Die Gärtner ernten oberhalb der zweiten Blattachsel. Dieses Vorgehen ermöglicht der Pflanze einen zweiten Austrieb.
Die borstig behaarten Stängel des Borretschs sind innen hohl.
Die zartblauen Borretsch-Blüten sind ein nektarreiches Futter für Bienen und andere Insekten.

Der zweite Austrieb ist für die Bienen

„Wir schneiden oberhalb der zweiten Blattachsel“, instruiert Ehrmann seine Mitarbeiter, „damit der Borretsch noch ein zweites Mal austreiben kann.“ Ein zweiter Austrieb wird zwar in der Herstellung nicht mehr verwertet, kommt aber den WALA-eigenen Bienen als Futter zugute. Auf das ökologische Gleichgewicht zwischen Pflanze, Tier und Mensch achten die Gärtner sehr sorgfältig, denn sie richten sich bei ihrer Arbeit nach den Grundsätzen der biologisch-dynamischen Landwirtschaft.

Ernte in Handarbeit

Konzentriert geht die Gruppe ans Werk. Manche tragen Handschuhe – die feinen Härchen des Borretschkrautes können die Haut reizen. Jeder erhält einen Erntekorb und nimmt sich eine Pflanzenreihe vor. Aufmerksam betrachten die Gärtner jedes einzelne Büschel. Verschmutzte oder kranke Blätter entfernen sie gleich an Ort und Stelle. Geerntet wird übrigens das blühende Kraut; „herba“ lautet der pharmazeutische Fachbegriff dafür. Die Erntescheren machen ein sattes Geräusch, wenn sie die saftig-fleischigen Stängel der Pflanzen durchtrennen. „Der Borretsch ist Wasser pur“, erklärt Bernhard Ehrmann. „Beim Abschneiden sprudelt die Flüssigkeit richtig nach.“ Ein leichter Geruch nach Gurke liegt in der Luft und erinnert an einen weiteren Namen des Borretschs: „Gurkenkraut“. Binnen kurzer Zeit ist das Feld zu gut zwei Dritteln leergeräumt. „Das genügt, jetzt gehen wir erstmal wiegen“, beschließt der Gartenleiter. 80 Kilo Pflanzenmasse waren von der Herstellung angefordert worden. Tatsächlich befinden sich bereits 103 Kilo Borretsch in den 14 Erntekörben. Das ist mehr als genug. Und so darf das letzte Drittel der Pflanzen auf dem Feld stehen bleiben – zur Freude der Bienen.

Lückenlose Dokumentation

Nun füllt Bernhard Ehrmann das sogenannte Ernteprotokoll aus. Pflanzenbezeichnung, Datum, Uhrzeit, geerntete Menge und Chargennummer sind wesentliche Bestandteile einer lückenlosen Dokumentation. Nur wenige Meter vom WALA Heilpflanzengarten entfernt liefern wir unseren Borretsch beim Wareneingang ab, wo die Mitarbeiter der Herstellung das Erntegut übernehmen und sofort zur Weiterverarbeitung bringen. Wir schauen auf die Uhr – es ist gerade erst 7 Uhr. Zeit genug „die besondere Energie der Morgenstunden für den Heilpflanzenansatz zu nutzen“, wie Walter Janetschek aus der Herstellung erläutert.

Dieser Artikel wurde erstmals in der viaWALA August 2014 veröffentlicht.