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Martin Kienzler ist Wildsammler im Auftrag der WALA Heilmittel GmbH.
Foto: Kerstin Braun
Mit Karabiner und Klettergurt – wie wild geht es tatsächlich zu, wenn Martin Kienzler bei der Arbeit ist? „Wild ist vor allem die Umgebung, in der die Pflanzen wachsen“, sagt er. „Aber als Wildsammler muss man schon gerne draußen sein – und auch mal auf einen Baum klettern, um Misteln zu schneiden. Ich sammle die Heilpflanzen ja dort, wo sie ursprünglich zu Hause sind.“ Während sich manche ganz einfach im Wald vor der Haustür ernten lassen, wollen andere in ausgemachten Hochgebirgslagen gepflückt werden. Immer stellt der Wildsammler der WALA vorab einen Antrag bei der zuständigen Naturschutzbehörde oder dem örtlichen Forstamt. Büroarbeit gehört also zu seinem Job, macht ihn überhaupt möglich. Denn erst wenn eine Sammlung genehmigt wurde und genau festgelegt ist, wo, wann und wie viel Prozent des Pflanzenbestands geerntet werden dürfen, bricht Martin Kienzler auf. „Was ich mache, das sind ausschließlich kontrollierte Wildsammlungen – so die korrekte amtliche Bezeichnung. Die Ernte darf nie zulasten der Natur gehen.“
Im Frühtau zu Berge
Wer wissen will, wie ein typischer Arbeitstag von Martin Kienzler aussieht, sollte früh aufstehen. Denn eine Wildsammlung beginnt meist vor Sonnenaufgang. Dann haben die Pflanzen ihre Photosynthese und Stoffwechselprozesse noch nicht aufgenommen und können mit ihrer ganzen Energie und Heilkraft geerntet werden. Ein weiterer Grund spricht für die Morgenstunden: Die frische Ernte wird nach Möglichkeit noch am gleichen Tag dem Pflanzenlabor der WALA übergeben, damit sie dort sogleich verarbeitet werden kann. Deshalb ist Martin Kienzler vorwiegend auf der Schwäbischen Alb, im Schwarzwald, im Bayerischen Wald, im Voralpenland oder in den Vogesen unterwegs.
Geht das nicht auch einfacher?
Unkomplizierter wäre die Ernte im Heilpflanzengarten der WALA oder auf den Feldern des Sonnenhofs, der ebenfalls zur WALA gehört. Viele Kulturen werden dort für die Herstellung der WALA Arzneimittel oder der Dr. Hauschka Kosmetik angebaut. Manche Pflanzen aber gedeihen in der Natur besser als im Beet. Sie brauchen das raue Klima in den Bergen oder bestimmte Böden bzw. Gesteine im Untergrund, eine typische Vegetationsgesellschaft. Nur so entwickeln sie ihren größtmöglichen Wirkstoffgehalt. Als Wildpflanzen sind sie zudem robuster, weil sie sich in der Natur behaupten müssen. Deshalb werden sie wild gesammelt.
Ein Blick auf Kienzlers To-do-Liste
Martin Kienzler sammelt, was das Pflanzenlabor der WALA bestellt: Es sind rund 20 Kulturen, vor allem Blütenpflanzen wie Augentrost oder Arnika. Aber er pflückt auch Birkenblätter, gräbt die Wurzeln von Enzian oder Pestwurz aus und schneidet Misteln zur Sommer- oder Wintersonnenwende. Die Mengen variieren stark: Während die WALA jährlich rund eine Tonne Fichtentriebspitzen braucht, reichen vom Keulen-Bärlapp etwa 300 Gramm – alle vier Jahre. Nicht jeder Auftrag ist gleich schnell gesammelt: Nach mehreren trockenen Jahren wächst zum Beispiel der Augentrost (Euphrasia officinalis) momentan etwas kleiner als sonst. Der Wildsammler muss also länger pflücken, um ausreichend Augentrost für die WALA Euphrasia Augentropfen, für Mascara oder die Kühlende Augenampulle von Dr. Hauschka sicherzustellen. Die Größe einer Pflanze sagt aber nichts über die Qualität ihrer Inhaltsstoffe aus. „Ich habe große Hochachtung vor dem kleinen Augentrost: Er wirkt auf den ersten Blick vielleicht etwas unscheinbar, hat aber enorme Kräfte“, ist sich Martin Kienzler sicher.
Das Kapital eines Wildsammlers
Gute Sammelplätze sind das Kapital eines Wildsammlers. Sie werden zusammen mit dem umfangreichen Erfahrungswissen persönlich weitergegeben. „Was ich wissen muss, steht in keinem Lehrbuch“, so Martin Kienzler, der aktuell von seinem „Meister“ Friedrich Reyeg in die Kunst des Wildsammelns eingewiesen wird. Es gilt aber auch, von der Natur selbst zu lernen, sich Wetter und Klimaveränderungen anzupassen. „Wir beobachten, dass sich nach mehreren milden Jahren wärmeliebende Pflanzen wie die Mistel stärker bei uns ausbreiten und dass sich alpine Pflanzen wie die Arnika in größere Höhen zurückziehen“, berichtet Martin Kienzler. „Inwieweit es sich um kurzfristige Phänomene oder tatsächlich um Folgen des Klimawandels handelt, wird sich zeigen. Ich werde auch künftig genau hinschauen.“
TEXT: Anne Mikus