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Eins ist größer als null

Die WALA bezieht wertvolles Rosenöl für die WALA Arzneimittel und Aprikosenkerne für die Dr. Hauschka Kosmetik aus langjährigen Anbaupartnerschaften in der Türkei. Statt zum Jahreswechsel Geschenke an Partner zu verteilen, unterstützt die WALA BHRTR mit einer Spende.
Foto: WALA / Gina Gorny

Frau Dr. Çımrın, was hat BHRTR motiviert, sich in der Region Adıyaman zu engagieren?

Unser Engagement in Adıyaman entstand ursprünglich aus der zwingenden Notwendigkeit, die unmittelbaren und die langfristigen Herausforderungen anzugehen, denen sich die vom Erdbeben betroffenen Gemeinden gegenübersehen. Adıyaman war eine der Städte, die das Pech hatten, dass Hilfe sie nicht oder zumindest erst sehr spät erreichte – die Einwohner:innen waren mit Ressourcenknappheit und begrenzter Unterstützung als unmittelbaren Folgen der Katastrophe konfrontiert.

Abgesehen von den physischen Opfern war die Region mit systemischen Problemen konfrontiert, verursacht durch die nach der Erdbebenkatastrophe einsetzende Flucht: Dazu gehören erhebliche psychosoziale Herausforderungen wie häusliche Gewalt, Risiken hinsichtlich des Schutzes von Kindern und ein Mangel an sicheren Gemeinschaftsräumen. Als wir die Vulnerabilität bestimmter Gruppen – Frauen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen – erkannten, sahen wir es als unsere Pflicht an, zu handeln.

Folglich war eine der ersten Maßnahmen, die Sie ergriffen haben, die Einrichtung eines sicheren Raums für diese gefährdeten Gruppen. Ein „Safe Space“ ist ein Ort, an dem sich Einzelpersonen sicher und frei von emotionalen oder körperlichen Bedrohungen wie Diskriminierung, Kritik und Belästigung fühlen können. Wie kann es gelingen, solche Räume in einer derart herausfordernden Umgebung zu schaffen?

Der Aufbau von sicheren Räumen für sogenannte „Zuhörkreise“ (engl. „listening circles“, Anm. d. Red.) erfordert einen durchdachten und bewussten Ansatz, um sicherzustellen, dass die Teilnehmer:innen sich sicher und unterstützt fühlen. Hauptziel ist es, ein Umfeld zu schaffen, in dem jede:r seine bzw. ihre Emotionen und Erfahrungen offen teilen kann, ohne Angst vor Verurteilung.

Wie solche Räume umgesetzt werden, hängt stark von der Ausbildung und dem Fachwissen der Moderator:innen ab. Jede:r Moderator:in erhielt eine umfassende Schulung, die praktische Strategien zum Aufbau von Vertrauen, zur Förderung einer offenen Kommunikation und zur Bewältigung potenzieller Herausforderungen während der Sitzungen vermittelte.

Die Moderator:innen sind darin geschult, die Komplexität von Traumata mit Sensibilität zu bewältigen und sicherzustellen, dass sich die Teilnehmenden gehört und wertgeschätzt fühlen, sowie eine respektvolle und integrative Atmosphäre zu fördern. Das strukturierte Format hilft den Teilnehmenden, Traumata konstruktiv zu verarbeiten und ein tieferes Verständnis für die eigenen Emotionen zu entwickeln.

Viele Teilnehmende drücken ihre Erleichterung und ihre Dankbarkeit dafür aus, dass sie einen sicheren Raum haben, in dem sie ihre Erfahrungen austauschen können. Sie berichten, dass sie sich leichter, verbundener und widerstandsfähiger fühlen. Die Sitzungen fördern auch das Gemeinschaftsgefühl, da die Teilnehmenden unterstützende Beziehungen aufbauen, die oft über das Programm hinausgehen.

Dr. Çiğdem Çımrın ist Mitbegründerin und Vorsitzende von BHRTR. Eines der Hauptziele der NGO ist die Durchführung von Aufklärungsveranstaltungen zu wichtigen Themen wie Kinderrechten, geschlechtsspezifischer Gewalt, Inklusion von Menschen mit Behinderungen und Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung.
Foto: BHRTR

Die ausgebildeten Moderator:innen spielen offensichtlich eine anspruchsvolle und sensible Rolle in einem Umfeld, in dem selbst Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden können. Welche Strategien verfolgen Sie, um diese Lücke zu schließen?

Das Erdbeben hat tiefe Narben hinterlassen, nicht nur in der Landschaft, sondern auch im emotionalen und sozialen Gefüge der Region. In Anbetracht dessen stand für uns an erster Stelle, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Einzelpersonen, insbesondere Frauen und Kinder, sicher fühlen können, um Traumata zu verarbeiten und den Weg der Heilung zu beginnen. Bereits im Vorfeld der Einrichtung dieser Räume war umfangreiche Arbeit erforderlich, einschließlich Bedarfsanalysen, Einbeziehung der Gemeinschaft und logistischer Planung. Der Einrichtungsprozess selbst war ebenfalls alles andere als einfach und brachte mehrere Herausforderungen mit sich – eine der größten Hürden stellte zunächst der Aufbau von Vertrauen innerhalb der Gemeinschaft dar.

Es bedurfte konsequenter Bemühungen, einschließlich persönlicher Kontakte und Öffentlichkeitsarbeit, um den Menschen zu versichern, dass es sich bei diesen sicheren Räumen um vorurteilsfreie Zonen handelt, die für ihr Wohlbefinden konzipiert wurden. Es war auch wichtig, die emotionalen und psychologischen Herausforderungen in unserem eigenen Team zu beachten. Die enge Zusammenarbeit mit Menschen, die ein erhebliches Trauma erlitten hatten, erforderte immenses Einfühlungsvermögen, Belastbarkeit und Professionalität.

Wie kam es zum Kontakt mit der WALA bezüglich des Engagements in Adıyaman?

Die Zusammenarbeit mit der WALA entstand durch das gemeinsame Engagement in der Katastrophenhilfe und im Einsatz für Menschenrechte. Aufbauend auf unserer früheren Beziehung zu verschiedenen Ernteprojekten bestand die Idee darin, die Wirkung zu maximieren und Punkte zu berühren, die vernachlässigt wurden. Beide Organisationen verfolgen überlappende Ziele in Adıyaman: die Förderung sicherer Räume, die Förderung des psychosozialen Wohlbefindens und die Deckung unmittelbarer humanitärer Bedürfnisse. In Gesprächen haben wir unsere Bemühungen darauf ausgerichtet, eine kohärente Reaktionsstrategie zu entwickeln, die auf die besonderen Bedürfnisse der Region zugeschnitten ist. Wir sind sehr dankbar, einen Partner wie WALA zu haben.

BHRTR bietet Kindern die Möglichkeit, Zeit in einer sicheren Umgebung miteinander zu verbringen – Zeit, in der sie spielen und sich auf natürliche Weise entwickeln können.
Foto: BHRTR

Können Sie näher erläutern, welchen positiven Einfluss Ihre Arbeit hat? Konkret: Wie profitiert jede:r Einzelne direkt davon, und was möchten Sie langfristig erreichen?

Unsere Arbeit hat einen vielschichtigen, positiven Einfluss auf das Leben der Teilnehmenden und deren Umfeld. Im Kern helfen die Zuhörkreise, Traumata zu verarbeiten, emotionale Widerstandsfähigkeit aufzubauen und ein neues Gefühl der Handlungsfähigkeit und Hoffnung zu entwickeln. Über die individuelle Transformation hinaus schaffen die Bindungen, die innerhalb der Gruppen geknüpft werden, informelle Netzwerke der gegenseitigen Unterstützung, die auch nach dem Ende der Sitzungen bestehen bleiben. Diese Verbindungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Förderung des Zugehörigkeitsgefühls und der Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaft, da die Teilnehmenden ihre Erkenntnisse und Bewältigungsstrategien mit ihren Familien, Freunden und Nachbarn teilen.

Auch die Kinder, die an parallelen Sitzungen teilnehmen, profitieren immens. Die kreativen Aktivitäten, die sie ausüben, helfen ihnen, ihre Emotionen zu steuern, Selbstvertrauen zu entwickeln und ihre Fähigkeit zu verbessern, effektiv zu kommunizieren. Indem das Programm gleichzeitig auf die Bedürfnisse von Frauen und Kindern eingeht, erzeugt es einen Welleneffekt, der die Familiendynamik und das Miteinander in der Gemeinschaft positiv beeinflusst.

Was motiviert Sie, am Ball zu bleiben? Woher nehmen Sie die Kraft, sich zu engagieren?

Unsere Stärke beruht sowohl auf der Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaften, mit denen wir zusammenarbeiten, als auch auf der gemeinsamen Anstrengung unseres Teams. Was uns motiviert, uns weiterhin zu engagieren, ist die Wirkung, die wir auf das Leben derer haben, denen wir dienen. Zu sehen, wie sich die Teilnehmenden verändern – ihre Stimme finden, emotionale Widerstandsfähigkeit wiederherstellen und tragfähige Beziehungen aufbauen –, erinnert uns daran, warum diese Arbeit wichtig ist. Die Dankbarkeit und das Feedback, das wir von Menschen erhalten, die sich auf eine Weise gehört, verstanden und unterstützt fühlen – eine Weise, die sie noch nie zuvor erlebt haben –, ist eine anhaltende Quelle der Inspiration.

Auf persönlicher Ebene stützt uns der Glaube, dass kleine Taten der Einfühlung und der Verbundenheit Wellen positiver Veränderungen auslösen können. Ich sage immer: Eins ist in der Tat größer als null. Jede Geschichte der Heilung, jede geknüpfte Verbindung und jeder Moment des gemeinsamen Verständnisses dient als Erinnerung daran, dass selbst im Angesicht von Widrigkeiten Fortschritt möglich ist.