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Die Kraft der Vielfalt

Extraktion von Pflanzenstoffen aus Blüten des Großen Wiesenknopfs.
Foto: Marek Bunse

In jedem Naturprodukt, das wir zu uns nehmen, stecken ungezählte Inhaltsstoffe. Ob beim Biss in einen Apfel, eine Möhre oder ins Honigbrot, mit jedem Schluck Kräutertee und mit jeder Pflanzenarznei, immer nehmen wir diese Vielstoffgemische in uns auf, die dem Körper in der Summe alles liefern, was er zum Überleben braucht. „Selbst, wenn wir einen Schluck frisches Wasser trinken, geschieht das“, erklärt der Biologe Marek Bunse, „denn Wasser besteht, chemisch gesehen, nicht nur aus H₂O-Molekülen. Es enthält auch gelöste Salze, Gase und organische Verbindungen.“ Bunse ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der WALA und untersucht im analytischen Labor Pflanzen auf ihre inhaltsstoffliche Zusammensetzung, ihre Wirkung und ihren Nutzen für die Gesundheit.

Mehr als die Summe von Einzelsubstanzen

„Wir differenzieren in den Untersuchungen sehr genau nach Pflanzenteilen, beziehen Wachstumsbedingungen und Erntezeitpunkte ein und betrachten den Einfluss unterschiedlicher Verarbeitungsprozesse auf die spezifische chemische Zusammensetzung“, erklärt Prof. Florian Stintzing, Leiter des Bereichs Wissenschaft und Mitglied der WALA Geschäftsleitung. Bei den Untersuchungen zeigt sich immer wieder, dass ein Gesamtextrakt eine Wirksamkeit erzeugen kann, die über die Wirkung der Einzelsubstanzen hinausweist, und dass ein reduzierter Blick auf ein oder zwei charakteristische Verbindungen nicht ausreicht, um das Potenzial pflanzlicher Zubereitungen auszuschöpfen. So logisch das klingen mag, diese Herangehensweise ist in der wissenschaftlichen Forschung heutzutage keineswegs selbstverständlich, im Gegenteil: Da immer neue Messmethoden immer tiefere Einblicke in die Welt der Pflanzeninhaltsstoffe ermöglichen, werden in unzähligen Laboren und Instituten Pflanzenextrakte analysiert, die darin vorhandenen Wirkstoffe identifiziert und mengenmäßig bestimmt, vielversprechend erscheinende Inhaltsstoffe herausgelöst und einzeln in ihrer Wirkung auf menschliche Zellen erforscht.

Das vergessene Ganze

Im Laufe der Medizingeschichte hat man auf diese Weise manch bahnbrechende Entdeckung gemacht, von der wir bis heute profitieren. Man denke nur an die Acetylsalicylsäure, also den Wirkstoff in Aspirin, der sich aus den fiebersenkenden und schmerzstillenden Extrakten der Weidenrinde ableitet oder an Penicillin, das aus Schimmelpilzen gewonnene erste Antibiotikum. Doch dieses Vorgehen hat einen Nachteil. Indem sich die Forscher nämlich immer stärker auf das Potenzial einzelner Inhaltsstoffe fokussierten, haben sie häufig die Tatsache aus dem Blick verloren, dass die Inhaltsstoffe von Pflanzen in ihrer natürlichen Mischung einander verstärken oder hemmen, ergänzen und komplettieren, sie also – bisher kaum beachtete – Wechselwirkungen haben.

Der Honig ist ein bekanntes Beispiel für ein Vielstoffgemisch: Er enthält neben Zucker auch Enzyme, Mineralien, Proteine, Pollen und weitere Substanzen.
Foto: Marek Bunse

Neue Fokussierung

„Indem wir die Vielstoffe wieder vermehrt in den Mittelpunkt des Interesses rücken, können wir ein unbekanntes und ungenutztes Potenzial auch jener Pflanzen heben, die unberechtigterweise aus dem Fokus der Forschung gerutscht sind“, erläutert Florian Stintzing, der als außerplanmäßiger Professor an der Universität Hohenheim lehrt. Seinen Ansatz verdeutlicht er so: „In den Pflanzen ist die Melodie des Lebens abgebildet, und wenn wir sie ihnen ablauschen und wieder in den Großzusammenhang setzen, können wir das, was wir in der Natur als Vielfalt sehen, auch auf die Medizin und deren Arzneimittel übertragen.“ Es ist genau diese Vielfalt, die dem Menschen in seiner Individualität und Komplexität gerecht wird.

Integrativer Ansatz als Zukunftsmodell

Die Wirkstoffgemische greifen in unterschiedliche Prozesse ein, die für unsere Gesunderhaltung relevant sind. Man denke nur an beruhigend wirkendes Lavendelöl oder Auszüge aus dem Roten Sonnenhut zur unterstützenden Behandlung bei Erkältungssymptomen. Inzwischen weiß man, dass diese Klassiker aus der Naturapotheke auch hochinteressante Kandidaten sind, wenn es um komplementäre Zusatzmedikation geht, etwa beim Versuch, Antibiotikaresistenzen entgegenzuwirken. Als selbstverständlich angenommene Sachverhalte mit neuesten wissenschaftlichen Methoden zu erforschen und stetig zu überprüfen, kann dabei nicht nur Wissenslücken schließen oder Fehler korrigieren. Sie wird so zur Grundlage modernster Therapieansätze in der komplementären Medizin: Vielstoffe können nachweislich helfen, schneller gesund zu werden
und es auch zu bleiben.

Dieser Text ist ein Auszug des Artikels „Die Kraft der ganzen Pflanze“, der in der Zeitschrift „Natürlich gesund und munter“ (Ausgabe 04/2022) erschienen ist.