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Das Werden der Welt

Dr. Alexander Gerber (Jahrgang 1966) ist Vorstand des Demeter e. V. Nach einer landwirtschaftlichen Lehre auf einem biologisch-dynamisch bewirtschafteten Hof studierte er von 1989 bis 1994 Agrarwissenschaften an der Universität Hohenheim.
Foto: Stephanie Schweigert

„Indem wir Landwirtschaft betreiben, bewirken wir Evolution – wir greifen in das Werden der Welt ein“, erläutert Demeter-Vorstand Dr. Alexander Gerber. „Dabei müssen wir uns die Frage stellen, in welche Richtung wir die Welt weiterentwickeln wollen.“ Mit dieser Frage traten schon 1924 mehrere Landwirte an Rudolf Steiner heran. Der Begründer der Anthroposophie initiierte nicht nur die Waldorfschulbewegung und, gemeinsam mit Ita Wegman, die Anthroposophische Medizin – er war auch auf weiteren Lebensfeldern wegweisend. Vor dem Hintergrund ihrer beginnenden Industrialisierung ging es nun also um Anregungen für eine ganzheitliche Weiterentwicklung der Landwirtschaft. „Für mich liegt ein grundlegender Aspekt der biologisch-dynamischen Idee darin, die Sinnfrage zu stellen“, unterstreicht Alexander Gerber. „Wie kann, wie sollte eine Landwirtschaft der Zukunft aussehen? Welche Nahrungsmittel brauchen wir für eine gesunde Entwicklung der Menschheit? Die wirtschaftliche Tätigkeit ist dann eigentlich nur der Rahmen, um Antworten auf diese Fragen geben zu können.“

Demeter-Höfe arbeiten klimafreundlich und ressourcenschonend

Vieles von dem, was Rudolf Steiner im sogenannten „Landwirtschaftlichen Kurs“ ansprach, ist auch heute noch von drängender Aktualität. Eine Verbesserung der Bodenqualität durch Kompostwirtschaft und Kuhmist, ein respektvoller Umgang mit Menschen, Tieren und Erde sind nach wie vor wichtige Entwicklungsfelder. Die Idee, den Hof als geschlossenen Organismus zu gestalten, in dem Anbau- und Weideflächen mit der Anzahl der auf dem Hof gehaltenen Tiere in einem gesunden Gleichgewicht stehen, überzeugt gerade in Zeiten zunehmender einseitiger Spezialisierungen auf bestimmte Betriebszweige. Und das aus gutem Grund: Biologisch-dynamische Bauernhöfe mit ihrer ganzheitlichen Organisation wirtschaften besonders klimafreundlich und ressourcenschonend. In etlichen Demeter-Betrieben wird heute außerdem über einen anderen Umgang mit Grund und Boden diskutiert. Nicht selten besitzen gemeinnützige Träger die Höfe und zugehörigen Ackerflächen.

Gewaltiger Preisdruck im Lebensmittelmarkt

Biologisch-dynamische Landwirtschaft ist allerdings arbeitsaufwendig und der Preisdruck im Lebensmittelmarkt gewaltig. Wie gelingt es den Betrieben dennoch, wirtschaftlich zu arbeiten? „Der Aufwand ist tatsächlich höher“, bestätigt Alexander Gerber, „wir brauchen zum Beispiel mehr Platz und größere Ställe für die hörnertragenden Kühe. Doch dadurch entstehen eine Qualität und ein Mehrwert, die von vielen Kundinnen und Kunden auch wahrgenommen und geschätzt werden. Dadurch gelingt es uns als einzigem Verband, zum Beispiel auch im Biofachhandel höhere Preise zu erzielen.“

Strenge Vorgaben statt bloßer Mindeststandards

Das Demeter-Zeichen ist nicht nur ein Biosiegel, es hat sich auch zu einer starken Marke entwickelt. Das Vertrauen der Verbraucher ist hoch, wie Umfragen regelmäßig belegen: Sie schätzen die strengen Vorgaben, die nicht nur über die Mindeststandards des EU-Biosiegels, sondern teilweise sogar über die der anderen Ökoverbände hinausgehen. Wichtiger als die immer zahlreicher werdenden Richtlinien ist jedoch aus Sicht des Verbandes die individuelle Verantwortung – und diese soll bei Demeter wieder stärker in den Mittelpunkt rücken. Der Verband arbeitet derzeit an Kriterien und Indikatoren für alle Nachhaltigkeitsbereiche, anhand derer Produzenten und Verarbeiter individuelle Entwicklungsziele definieren können.

Jeder Einzelne trägt Verantwortung

Ein Ansatz, der gut zu den philosophischen Wurzeln der Demeter-Bewegung passt, wie Gerber ausführt: „Aus anthroposophischer Perspektive ist es wesentlich für uns Menschen, dass wir als Einzelne Verantwortung übernehmen und initiativ werden. Eine solche Haltung wird jedoch durch Richtlinien tendenziell untergraben – es entsteht die Gefahr einer ‚Rezepte-Landwirtschaft‘, deren Charakter sich gar nicht mehr so stark von der konventionellen Landwirtschaft unterscheidet. Was dort der Beipackzettel bei den Spritzmitteln ist, sind dann bei uns die Richtlinien. Die Frage ist deshalb, wie wir dem Unternehmerischen mehr Raum geben, gleichzeitig aber genug Verbindlichkeit herstellen können.“

Weiterentwicklung der Bewegung stärken

Betriebsentwicklungsgespräche könnten diese Verbindlichkeit sichern. Die Bedeutung von Richtlinien und Kontrollen würde in den Hintergrund treten. Bis das neue System etabliert ist, werden wohl noch einige Jahre vergehen, meint Gerber, aber man sei „im Prozess“. Und ein solcher Prozess eröffne allen Beteiligten neue Perspektiven: „Wir wollen damit unser Versprechen gegenüber den Verbrauchern neu fassen: Es geht dann weniger darum, dass unser Verband der strengste von allen ist – viel wichtiger ist, dass er Weiterentwicklung und Bewegung fördert. Auf diese Weise wollen wir der Verantwortung wieder mehr Raum schaffen, damit sie zu einer entwickelnden Kraft werden kann.“

Dieser Artikel wurde erstmals in der viaWALA Dezember 2016 veröffentlicht.