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Auf dem Prüfstand

Prof. Dr. Florian Stintzing ist Mitglied der WALA Geschäftsleitung und leitet als Forscher das Ressort Wissenschaft. Zudem lehrt er als außerplanmäßiger Professor an der Universität Hohenheim.

Herr Stintzing, Sie sind Mitglied der Geschäftsleitung der WALA Heilmittel GmbH und Forscher. Zusätzlich zu Ihrer Aufgabe als Ressortleitung Wissenschaft lehren Sie als (außerplanmäßiger) Professor an der Universität Hohenheim. Sie haben habilitiert und inzwischen kommen Sie auf über 130 Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern. Was begeistert Sie so an der Forschung?

Prof. Dr. Florian Stintzing:

Insbesondere faszinieren mein Team und mich Pflanzen, deren inhaltsstoffliche Zusammensetzung und Wirkung, ihr Nutzen für die Gesundheit des Menschen: Pflege, Stärkung, Aktivierung von Heilungsprozessen. Wir gehen dazu wissenschaftlich neue Wege. Uns interessiert dabei die ganze Pflanze, die Pflanze als sogenanntes „Vielstoffgemisch“. So können wir unbekanntes und ungenutztes Potenzial der hiesigen Pflanzen heben, die unberechtigterweise aus dem Fokus der Forschung gerutscht sind.

Was heißt das konkret, die Erforschung von „Vielstoffgemischen“?

Florian Stintzing:

Wir differenzieren in den Untersuchungen sehr genau nach Pflanzenteilen, beziehen Wachstumsbedingungen und Erntezeitpunkte mit ein und betrachten den Einfluss unterschiedlicher Verarbeitungsprozesse auf die spezifische chemische Zusammensetzung.

Bei der Analyse von solchen „Vielstoffgemischen“, beispielsweise in Form fermentierter wässriger Pflanzenextrakte, entdecken wir auch bei solchen Pflanzen neue chemische Verbindungen, die gemeinhin als altbekannt und intensiv beforscht gelten.  Und wir entdecken auf diesem Wege unbekannte Wirkungspotentiale. So zeigt sich, dass der Gesamtextrakt eine Wirksamkeit erzeugen kann, die über die Wirkung der Einzelsubstanzen hinausweist, ein reduzierter Blick auf ein oder zwei charakteristische Verbindungen nicht ausreicht.

Dieser Forschungspfad mit Fokus auf „Vielstoffgemische“ hat sich als fruchtbar erwiesen und ein hohes Potential, für die Medizin und andere Anwendungsgebiete auch weiterhin neuartiges, hilfreiches Wissen zu generieren.

Inwiefern ist diese Art der Erforschung von „Vielstoffgemischen“ neu?

Florian Stintzing:

Typischerweise hat sich die medizinische Forschung in den vergangenen Jahrzehnten auf die Analyse einzelner pflanzlicher Substanzen (Mono-Substanz) und deren Wirksamkeit konzentriert. Wenn diese Substanzen sich als nützlich erwiesen haben, dann ging es häufig darum, die Möglichkeiten der synthetischen, industriellen Reproduktion zu prüfen oder Isolate aus ertragreichen pflanzlichen Quellen herzustellen. Für die heutige Medizin haben sich diese Vorgehensweisen auch vielfach bewährt. Allerdings hat diese Art der Fokussierung bzw. Reduktion eben Anderes systematisch aus dem Blickfeld geraten lassen.

Die Integrative Medizin greift aus guten Gründen ergänzend zunehmend gerne (wieder) auf natürliche Arzneimittel als Vielstoffgemische zurück. Daraus ergeben sich Fragen, die wir heute mit wissenschaftlichen Studien, modernen analytischen Verfahren und Labortechnik oder auch in klinischen Studien umfassender beantworten können.

Natürlich fangen wir nicht bei „Null“ an. Wir knüpfen mit unserer Herangehensweise an die klassische Pharmakognosie an, die Lehre von den biogenen – also pflanzlichen oder tierischen – pharmazeutischen Drogen, Arzneimitteln und Giftstoffen. Unsre spezifische Vorgehensweise berücksichtigt die gemeinhin vergessene Begleitmatrix - also die in der Monosubstanz-Perspektive unberücksichtigten Substanzen der Pflanze. Das sind solche, die beispielsweise, die Löslichkeit oder die Stabilität von den hauptwirksamen Inhaltsstoffen verbessern.

Inwiefern lässt sich exemplarisch der Nutzen dieser Art der Forschung zeigen?

Florian Stintzing:

Nichtbakterielle Mittelohrentzündungen sind eine häufige und teils sehr schmerzhafte Erkrankung - insbesondere bei Kindern. Die Erfahrung aus der Pflanzenheilkunde legte nahe, die Wirksamkeit von Liebstöckel (Levisticum officinale), dem sogenannten Maggikraut, zu prüfen. Hier konnten wir erstmals wissenschaftlich zeigen, dass sowohl das Extraktmittel Olivenöl als auch die fettlöslichen Pflanzeninhaltsstoffe dieses eigentlich altbekannten Heilmittels bei Mittelohrenzündungen (Otitis media) wirksam sind. Diese lindern den Schmerz und gleichermaßen die Mittelohrenzündung selbst, wenn sie nichtbakterieller Natur ist. Und das ist ja vorwiegend der Fall. (Beckmann et al. (2017) Zeitschrift für Phytotherapie 38, 65-71).

Ein anderes Beispiel bezieht sich auf den Nutzen von Gerbstoffen, in diesem Fall Eichenrinde (Quercus cortex), für die Behandlung von Allergien. Auch hier handelt es sich um ein altbekanntes pflanzliches Heilmittel. Aber der wissenschaftliche Nachweis fehlte, in welcher Weise dieser wirkt.

Um die Wirksamkeit zu prüfen, haben wir den Extrakt im Labor in einen hoch- und einem niedermolekularen Anteil getrennt (Lorenz et al., Journal of Ethnopharmacology 194, 642-650 (2016). In einem präklinischen Versuch wurden dann diese Fraktionen und der sog. Dekokt in der frühen (Histaminfreisetzung, meist lokal) und späten Allergiephase (Botenstofffreisetzung, systemisch) auf deren Aktivität geprüft.

Es zeigte sich einerseits, welche analytischen Prüfungen erforderlich sind, um die Wirksamkeit eines solchen Extrakts sicherzustellen. Zudem dienen die Ergebnisse als Arbeitsgrundlage für die Absicherung bestehender und Entwicklung künftiger Präparate, die einen solchen Extrakt enthalten. Denn interessanterweise erzielte der Extrakt vergleichbare Wirksamkeiten zu einem klassischen Antihistaminikum (frühe Phase) bzw. Glucocorticoid (späte Phase).

Sie arbeiten jeweils in größeren Teams und veröffentlichen meist in internationalen Zeitschriften. Warum machen Sie das?

Florian Stintzing:

Das Entscheidende an der Wissenschaft ist ja, der gemeinsame, öffentliche Lernprozess. Forschungsergebnisse werden veröffentlicht, sollen von jedem genutzt werden können.

Neben der Veröffentlichung ist für uns und alle Forscher entscheidend, dass wir auf diese Weise in ein System der Begutachtung eingebunden sind. Das prägt die Wissenschaft heute noch mehr als früher: Es geht um Transparenz, um Einhaltung von strengen methodischen Regeln, um unabhängige Prüfung des wissenschaftlichen Werts, die Gegenstand der Begutachtung sind. Diese Form des Dialogs und der Begründung von Ergebnis und Methode ermöglicht einen sehr wertvollen Lernprozess.

An unseren Studien sind aber auch abgesehen von dieser Begutachtung durch Dritte auch Kollegen anderer Universitäten beteiligt: neben Hohenheim sind das u.a. die Universitäten Freiburg, Tübingen, Greifswald und Regensburg. Solche Kooperationen ermöglichen die Berücksichtigung verschiedener Perspektiven und sind dadurch besonders effektiv.

Herzlichen Dank für das Gespräch.