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Eigentlich haben wir Spätsommer. Die letzten Tage waren angenehm warm und sonnig. Aber hier oben, auf luftigen, rund 1.200 Metern Höhe – und außerdem so früh am Morgen – sehnen wir uns nach einer Winterjacke. Kühle 8,5 Grad hatte die Temperaturanzeige unseres Wagens verkündet, während wir über schmale Bergstraßen bis zum Ernteplatz fuhren. Der Berg liegt in den französischen Südvogesen, etwa 45 Kilometer südwestlich von Colmar. Umgeben von Magerrasen stapfen wir den steinigen Bergpfad empor. Glockenblumen, Preiselbeeren, Heidekraut, wilde Stiefmütterchen und Gelber Enzian säumen den Weg. Auf halber Strecke kommt uns Friedrich Reyeg entgegen. „Damit wir uns nicht verpassen“, meint er schmunzelnd und reicht uns seine wettergegerbte Hand.
Seit über 38 Jahren sammelt der 65-Jährige Wildpflanzen für die WALA Heilmittel GmbH. Heute steht die Ernte von 20 Kilogramm Augentrost für den WALA Elixierbetrieb auf dem Programm. Benötigt wird „planta tota“, also die ganze Pflanze inklusive Wurzel. „Mittlerweile habe ich Routine“, erzählt der Wildsammler. „Ich kenne die besten Plätze und zur Not auch Ausweichmöglichkeiten.“ Manch gute Sammelstelle sei ihm leider über die Jahre verloren gegangen. Zum Beispiel, weil die Fläche mittlerweile zu stark beweidet sei. Oder weil andere Unternehmen nun ebenfalls dort ernteten.
Der Sammelplatz liegt am Berghang. Im Winter kommen viele Skifahrer hierher. Für die warme Jahreszeit gibt es seit einiger Zeit eine Sommerrodelbahn. Reyeg hält beim Sammeln bewusst Abstand zu ihr. „Ein Rummelplatz ist das“, brummt er. Nein, Lärm und Trubel liegen ihm nicht. Reyeg ist ein ruhiger, gewissenhafter Mann. Mit geübter Handbewegung zupft er ein Augentrost-Pflänzchen aus dem Magerrasen.
Nur makellose Pflanzen landen im Korb
„Wir ernten nur ausgewachsene Pflanzen“, erklärt der Wildsammler und dreht das Pflänzchen vorsichtig zwischen den Fingern. Der optische Check erfolgt sofort an Ort und Stelle: Hat die Pflanze eine Pilzerkrankung? Welke Blätter? Nur, wenn sie makellos ist, darf sie in den grünen Erntekorb. Volle Körbe bringt Reyeg in den Schatten, besprüht die Pflanzen mit Quellwasser und deckt sie mit weißen Tüchern zu, damit sie frisch bleiben. Unterstützung hat Friedrich Reyeg heute von seiner Lebensgefährtin Birgit, von seinem Sohn Max und von den Helfern Anna und Alex, die ihn bereits seit Jahren bei vielen Ernten begleiten. Alleine könnte er die 20 Kilo an einem Tag nicht schaffen. Außerdem müssen sie schon am nächsten Morgen in aller Frühe zur Weiterverarbeitung bei WALA im über 300 Kilometer entfernten Bad Boll sein. Reyeg gibt zu: „Klar, so eine Ernte ist eine Mords-Maloche.“ Viele Stunden lang in gebückter Haltung oder kniend am Bergeshang – da spürt man am Abend jeden Knochen. Aber: „Währenddessen merke ich das kaum“, sagt der Experte. „Ich arbeite sehr fokussiert, manchmal auch ein wenig angespannt. Schließlich muss alles klappen. Denn ich möchte auch weiterhin pünktlich und zuverlässig liefern, damit die WALA produzieren kann.“
Wildsammlung mit Genehmigung
Die Wiesen, auf denen Reyeg erntet, gehören zumeist den dortigen Gemeinden. Die Naturamus GmbH, ein Tochterunternehmen der WALA, handelt mit den örtlichen Behörden eine Genehmigung aus. Andere Plätze sind das Eigentum ansässiger Bauern. „Die freuen sich, wenn wir zum Ernten kommen“, erklärt der Wildsammler schmunzelnd. „In Österreich nennt man den Augentrost auch ,Milchdieb‘, weil das Vieh weniger Milch gibt, wenn es zu viel davon frisst.“ Um die Bestände zu schonen, erntet Reyeg eine Stelle nie kahl. Das ist ihm ganz wichtig. Und er lässt den Plätzen Zeit, sich zu erholen. „Auch sie brauchen Pausen“, erklärt er.
Nachmittags brechen die Sammler zu einer neuen Stelle auf. Wenn die benötigte Erntemenge erreicht ist, wird Friedrich Reyeg mit seinem Erntegut nach Hause fahren. Dort breitet er die Pflanzen auf selbstgebauten, mit Seide bespannten Hurten aus und entfernt Grashalme sowie andere Fremdkörper. Am nächsten Morgen liefert er den Augentrost bereits um 7 Uhr beim WALA Elixierbetrieb zur Weiterverarbeitung ab. Ob er ans Aufhören denkt? Friedrich Reyeg schüttelt den Kopf. „Der Jahresrhythmus der Pflanzen, die Natur, der Sonnenaufgang während der Ernte – das alles würde mir doch sehr fehlen. Ich mache weiter, so lange ich körperlich noch fit bin.“
Dieser Artikel wurde erstmals in der viaWALA März 2017 veröffentlicht.