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Trocknen bewahrt Leben

Blätter sammeln, zwischen den Seiten dicker Bücher trocknen und pressen. Wer hat das nicht als Kind gemacht? Im Herbarium Hohenheim wird genau dieser Prozess wissenschaftlich betrieben – und bildet so die Grundlage für die Forschungsarbeit in unseren WALA Laboren. „Für uns in der Forschung ist der Nachweis, dass wir tatsächlich mit der entsprechenden Pflanze gearbeitet haben, essentiell“, erklärt Marek Bunse. „Ohne Nachweis wird keine Studie anerkannt.“ Als Biologe mit Spezialisierung auf Botanik und Phytochemie beschäftigt er sich mit der Inhaltsstoff-Zusammensetzung von Pflanzen, den sogenannten Vielstoffgemischen. „Von jeder Arzneipflanze, mit der wir in der Forschung arbeiten, schicken wir ein getrocknetes Exemplar an das Herbarium Hohenheim, wo dieses dann einen spezifischen Code bekommt.“ Zu jeder Pflanze wird eine digitale Akte angelegt, zum Teil auch mit Foto. Der Nachweis, ein sogenannter Herbarbeleg, ist somit jederzeit verfügbar.

Eine (über-)lebenswichtige Lehreinrichtung

In einem gut gepflegten Herbarium wie dem in Hohenheim können Herbarbelege jahrhundertelang aufbewahrt werden. Die Sammlung in Hohenheim umfasst circa 500.000 wertvolle Belege. Dieser Reichtum ist über Jahrhunderte gewachsen und fand seinen Ursprung in einer Naturkatastrophe vor über 200 Jahren: Nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien im Jahr 1816 fiel der Sommer aus – und somit auch ein großer Teil der jährlichen Ernte. König Wilhelm I. von Württemberg gründete daraufhin 1818 die Landwirtschaftliche Lehreinrichtung in Hohenheim. Unter anderem wurden dort von Anfang an Naturwissenschaften, also auch Biologie, gelehrt. Das große Ziel: der Hungersnot ein Ende bereiten.

Rhinaixa Duque-Thüs, Leiterin des Herbarium Hohenheims, inmitten ihrer wertvollen Sammlung.

Hüterin der Schätze

Rhinaixa Duque-Thüs, die Leiterin des Herbariums, ist Hüterin der wertvollen Schätze. Mit einem der ältesten erhaltenen Belege der Alblinse (Linse, lat. Lens culinaris Medik.) aus dem Jahr 1870 verfügt das Herbarium Hohenheim über ein besonders wertvolles Exemplar. Diese Kulturpflanze, die lange zur Ernährung der Landbevölkerung beitrug, starb regional um 1960 aus. Durch einen Fund des Herbarbelegs der Linse im Wawilow Institut in St. Petersburg konnte die Alblinse wieder reaktiviert und vermehrt werden – zunächst im Gewächshaus und dann auch im Freiland. Klima und Böden der Schwäbischen Alb trugen ihr Bestes dazu bei, sodass die Linse nun wieder in ihrer gewohnten Umgebung wächst und gedeiht. Das macht sich auch auf dem Teller bemerkbar: Linsen und Spätzle, das schwäbische „Nationalgericht“, wird jetzt wieder mit der Urform der regionalen Linsen zubereitet. „Diese Geschichte illustriert gleichzeitig die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit von Samensammlungen und Erhaltungszuchten an verschiedenen Orten“, betont Rhinaixa Duque-Thüs.

Ein besonders wertvoller Schatz: der Herbarbeleg der Alblinse (Linse, lat. Lens culinaris Medik.).

Artenvielfalt schützen

Im Laufe der Zeit werden viele Pflanzenarten seltener oder sind gar vom Aussterben bedroht. Hier können Herbarbelege eine (über-)lebenswichtige Rolle spielen: Aus den getrockneten Samen, die tiefgefroren gelagert werden, oder sogar aus Pollen, können Pflanzen „reaktiviert“ werden – und das ganz ohne Gentechnik. Die Samen werden einfach wieder eingepflanzt. Bei Pollen ist noch ein Zwischenschritt erforderlich: Sie werden mit Spülmittel in Wasser eingelegt und können dann zur Befruchtung eingesetzt werden. „Das Erbgut aus solchen Belegen kann zukünftig durch Wissenschaftler:innen erfolgreich isoliert und studiert werden. Somit besteht die Möglichkeit, die genetischen Grundlagen für die heute identifizierten Inhaltsstoffe zu einem späteren Zeitpunkt aus dem Herbarbeleg heraus zu rekonstruieren“, folgert Rhinaixa Duque-Thüs. Ein wichtiger Schritt für die Forschung und den Erhalt unserer Artenvielfalt, der durch äußere Faktoren wie den Klimawandel bedroht ist.

Auch Herbarbelege der WALA werden im Herbarium Hohenheim gelagert. Hier zum Beispiel der Samen des Großen Wiesenknopfs.

Pflanzenwelt in Aufruhr

„Die Vorgänger unserer landwirtschaftlich genutzten Pflanzen waren häufig widerstandsfähiger, brachten jedoch weniger Ertrag und ihr Gehalt an Inhaltsstoffen war zu gering“, erklärt Marek Bunse. „Erst das Züchten und Kreuzen erzeugte einen Großteil der heute wirtschaftlich genutzten Sorten. Doch die Natur lehrt uns, dass Energie nicht unendlich zur Verfügung steht.“ Denn die von der Pflanze zur Ertragsteigerung benötigte Energie für pralle Samenkörner oder gesteigerten Fruchtansatz fehlt unter Umständen bei der Widerstandsfähigkeit gegen Schädlinge, Krankheiten und sich wandelnde Bodenbeschaffenheit oder in anderen Stresssituationen. Veränderte klimatische Bedingungen, neue Krankheiten oder eingeführte Schädlinge sind eine große Herausforderung für begrenzt anpassungsfähige beziehungsweise vermindert stresstolerante Pflanzen. Doch die ursprünglichen gesunden lokalen Pflanzen wurden möglicherweise verdrängt oder sind nahezu ausgestorben.

Pflanzenvielfalt bewahren

Für Rückkreuzungen zu vitaleren Sorten, aber auch für wichtige Renaturierungsprojekte zum Arterhalt ist man daher auf bestehende Sammlungen wie das Hohenheimer Herbarium mit seinen Pflanzen-, Samen-, Farn-, Flechten-, Moos- und Pilz-Belegen aus vergangenen Zeiten angewiesen. Ganze Samenbibliotheken können gekühlt und unter hermetischem Verschluss sehr lange Zeit für die Zukunft gesichert werden. „Eine weitere Möglichkeit ist die molekulare Reaktivierung, bei der die DNA aus dem getrockneten Beleg isoliert wird“, fügt der Biologe hinzu. Dank dieser wegweisenden Forschung ist das Herbarium nicht nur ein Ort der Archivierung – es sichert auch die Pflanzenvielfalt für zukünftige Generationen. Die Pflanzenschätze zeigen eben nicht nur ein buntes Bild der Vergangenheit, sondern sie tragen auch dazu bei, altes Kulturgut für kommende Generationen zu bewahren. Und das ist alles andere als „trocken“.