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Der Hafer spricht

Hafer – Avena sativa.
Foto: Arne Schneider

Darf ich mich nochmals vorstellen? Mein vollständiger Name lautet Avena sativa. Sie kennen mich als Hafer oder vielmehr als Haferflocken. Sativa heiße ich nicht, weil ich ordentlich satt mache, sondern weil ich eine Kulturpflanze bin. Das lateinische Wort sativa bedeutet „angebaut“. Ich bin eine angebaute Speise. Denn das Wort Avena, das vermutlich aus dem Sanskrit kommt, heißt übersetzt „Speise“. Meine Verwandten wuchsen einst vor mehr als tausend Jahren wild in einer märchenhaft klingenden Region: dem fruchtbaren Halbmond, der sich von Israel über Syrien und Irak bis an den Persischen Golf zog. Auch in Südspanien, Nordafrika und auf den Kanarischen Inseln fühlten sie sich wohl. In diesen trockenen Gegenden gediehen viele Gräser in den Wiesen. Die Vorfahren des Weizens und der Gerste waren auch dabei. Die Menschen wurden in dieser Kulturlandschaft zum ersten Mal sesshaft und erkannten schnell, wie Getreide zum Grundstock ihrer Ernährung beitrug. Sie kultivierten die Urformen erstmals – was aber nicht heißt, dass sie uns einzäunen konnten. Ab und zu flogen die Samen meiner Ahnen einfach aus, weiter nach Norden, in kühlere Regionen. Sie besaßen eine Fähigkeit, die Weizen und Gerste nicht hatten. Sie kamen mit den feuchteren Böden dort zurecht. In ihrer ursprünglichen Heimat war das zwar nicht nötig, im kühleren Norden aber von Vorteil. Die dortigen Menschen nahmen meine Ahnen bald in ihre Obhut. Denn sie erkannten, dass wir äußerst nahrhaft sind. Kein anderes Getreide ist so eiweiß- und fetthaltig. Sie kultivierten uns weiter – zu der Art, die Sie morgens in Ihrem Müsli finden: Avena sativa. Ich bin deshalb ein echtes Kulturgut. Ohne den Menschen gäbe es mich in dieser Form nicht.1

Dass ich außerordentlich nahrhaft bin, habe ich bereits erwähnt.

Ich enthalte zudem sehr viele Spurenelemente. Zum Beispiel fast so viel Eisen wie Fleisch, dazu eine Menge Kieselsäure, Phosphor und Ballaststoffe, insbesondere die Beta-Glucane, dazu reichlich Vitamin B1 und B6. Mithilfe dieses Inhaltscocktails bin ich für Sie heilsam, wenn Sie Hautprobleme haben, unter Diabetes leiden oder erschöpft sind. Im Jahr 2017 war ich deshalb die Arzneipflanze des Jahres2, also hoch offiziell anerkannt. Die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) bestätigte mir im Jahr 2011, dass meine Beta-Glucane das Potenzial besitzen, den Cholesterinspiegel in Ihrem Blut zu senken.3 Die Beta-Glucane sind komplexe Zuckerstoffe, so genannte Polysaccharide. Weil sie so schön schleimartig sind, beruhigen sie Ihren Magen und schützen Ihre Darmwand.

Der Jahreslauf beginnt: gekeimtes Haferkorn
Foto: Justus Weiß
Das erste Blatt eines Keimlings heißt Keimblatt
Foto: Justus Weiß
Ab Juni schiebt sich die Haferblüte im Halm hoch. Man nennt das Rispenschwellen
Foto: Justus Weiß
Die Blüten entfalten sich zur luftigen Rispe
Foto: Justus Weiß
Bis August ist der Hafer vollausgereift und goldgelb
Foto: Justus Weiß

Ihre Darmbakterien lieben mich übrigens auch.

Wenn Sie mich regelmäßig essen, produziert Ihre Darmflora eine bestimmte Fettsäure, das Butyrat, das dazu beiträgt, ihre Dickdarmschleimhaut zu regenerieren. Und weil meine Ballaststoffe die Aufnahme von Nährstoffen verzögern, steigt Ihr Blutzuckerspiegel langsamer an. Entsprechend niedriger ist die Insulinausschüttung. Für Sie ist das hoffentlich nicht so wichtig. Patienten mit Diabetes Typ 2 haben aber tatsächlich einen großen Vorteil dadurch. Eine Studie am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin ergab, dass ihr Insulinbedarf um bis zu 30 % geringer ist, wenn sie an zwei Tagen in der Woche Hafermahlzeiten zu sich nehmen. Der Effekt hält bis zu vier Wochen an.4

Wenn ich so mit Ihnen plaudere, …

… kommt es mir so vor, als wenn ich Sie bereits ewig kenne und Ihnen als Kulturgetreide sehr nahe bin. Vielleicht kann ich Ihnen deshalb besonders bei Krankheiten helfen, die mit Ihrer zivilisierten Lebensweise in Zusammenhang stehen. Erschöpfung und Einschlafstörungen zählen dazu. Die anthroposophische Medizin setzt mich deshalb gerne in ihren Arzneimitteln ein. Zu Recht. Denn überlegen Sie selbst: Wenn Sie viel mehr draußen wären und sich ordentlich bewegen würden, anstatt womöglich an einem Computer zu arbeiten, dann kämen Sie nachts viel besser zur Ruhe. Und dann wären Sie am nächsten Morgen auch ausgeruht. Sie sollten sich vielleicht mich als Beispiel nehmen. Mein Wechsel zwischen Ruhe und Aktivität findet allerdings nicht an einem Tag statt, sondern im Jahreslauf. Das Jahr beginne ich als satt grünes Gras, das im Laufe der Monate immer trockener, goldener und filigraner wird. Wenn meine Samenkörner reif sind, tragen nur noch sie den Lebenskeim. Weil ich eine einjährige Pflanze bin, sterben mein Stängel und die Wurzeln ab. Das ist nicht schlimm, ich muss nicht versuchen, mich dagegen zu wehren. Denn meine reifen Samen sprießen im darauffolgenden Jahr wieder satt grün. Ich kann einfach loslassen. Versuchen Sie es doch auch einmal.

1 Waldburger B, Weiß J, Roemer F, Stintzing FC. Hafer – seine Rolle in Kulturgeschichte, Pharmazie und Medizin. Elemente der Naturwissenschaft 2014; 101: 5-34.

2 Gewählt vom interdisziplinären Studienkreis Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzenkunde am Institut für Medizingeschichte der Universität Würzburg

3 European Food Safety Authority. Beta-glucans from oats and barley related health claims. EFSA Journal 2011; 9(6):2207.

4 Lammert A, Kratzsch J, Selhorst J et al. Clinical benefit of a short term dietary oatmeal intervention in patients with type 2 diabetes and severe insulin resistance: a pilot study. Exp Clin Endocrinol Diabetes 2008; 116 (2): 132–134.